Als die zierliche Henriette Kretz am 02.09.2019 das Zimmer 209 des Freiberg Kollegs betritt, hat sie ein Ziel. Sie möchte den anwesenden Schülerinnen und Schülern ihre Geschichte erzählen. Die Geschichte eines jüdischen Mädchens, dass Nazi-Deutschland überlebte. Der Theologe, Bürgerrechtler und Leiter der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Frank Richter begleitet die aufgeweckte Dame bei ihren "Aufklärungsreisen". Er ist es auch, der sie bei der Veröffentlichung ihres Buches unterstützte.
Ihr Auftreten beeindruckt, denn trotz ihrer zarten Stimme wirkt die heute 85-Jährige selbstsicher und ruhig. Schon der Anfang ihres Vortrages macht deutlich, was der Einmarsch der Deutschen in Polen und der Sowjetunion für sie und ihre Familie bedeutete. Sie zeigt Bilder aus glücklicheren Tagen. Bilder ihrer Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen. Bilder von Freunden und Bekannten. Unter den lächelnden Gesichtern ist fast immer zu lesen: "Im KZ umgekommen." oder "Erschossen".
1934 in Lemberg geboren, wächst Henriette Kretz in einer liebevollen Familie auf. Ihr Vater ist ein anerkannter jüdischer Arzt, ihre Mutter eine gebildete und warmherzige Frau. Als die Deutschen 1939 Polen überfallen, flieht die Familie. Doch sie können Hitlers Schergen nicht entkommen. So muss sie miterleben, wie Juden ausgegrenzt und gedemütigt werden, wie ihrer Familie alles genommen wird. Sie lernt den unerträglichen Hunger und die verheerenden menschenunwürdigen Bedingungen im Ghetto kennen. Durchlebt in einem Versteck die quälende Angst, denunziert und von den Nazis entdeckt zu werden. Und muss schließlich miterleben, wie ihre Eltern vor ihren Augen erschossen werden. "Mein Kopf hat nichst mehr gedacht, aber meine Beine. Sie sind einfach losgelaufen, gelaufen, gelaufen, gelaufen.", erzählt die kleine Frau. Sie ist damals neun Jahre alt. "Ich habe mich als der einsamste Mensch gefühlt.", sagt sie. Umgeben von der Gefahr, entdeckt und der SS übergeben zu werden, schlägt sie sich bis zu einem Waisenhaus bei Lemberg durch, das sie durch ihre Eltern kennt. Als Ordensschwester Zelina die Tür öffnet, fragt die kleine Henriette: "Willst du meine Mutter sein?" Dieser Satz ist auch der Titel ihres autobiografischen Buches. Die Ordensschwestern fasst sich ein Herz und nimmt das jüdische Mädchen auf. Zwar erfährt Henriette auch im Waisenhaus Ausgrenzung und Abneigung durch die anderen Kinder, aber sie lebt.
Es herrscht absoluten Stille im Raum. Die Schülerinnen und Schüler sind gefesselt. Und obwohl alle noch länger ihrer persönlichen Geschichte gefolgt und vielleicht auch gern mit ihr in einen Dialog getreten wären, muss die 85-Jährige sich schon verabschieden. Ihr Zug nach Antwerpen, ihrem heutigen Wohnsitz, fährt gleich.
Trotz all der Gräueltaten, die sie miterleben musste, hat sie sich nicht ihren Lebensmut und ihren Humor nehmen lassen. Die Nazis haben es nicht geschafft, aus ihr einen gebrochenen Menschen zu machen. Das beeindruckt. Bevor sie geht, möchte sie aber allen Zuhörern noch eine Sache mit auf den Weg geben: "Vergesst nie, was passiert ist, und bedenkt euer Handeln und eure Denkweise."